Schellings Bilder, die hier hinter mir projiziert werden, sind im Original keine Fotografien, meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern minuziöse Malerei! Schelling ist eine Malerin, die sich der Fotografie höchstens als Hilfsmittel bedient.
Warum aber macht sie sich die Arbeit, ihre Bilder in einem höchst langwierigen Arbeitsprozess mit Zeichentusche auf grundierten Aluminiumtafeln anzulegen? Warum malt sie Architektur anstatt sie zu fotografieren? Wäre Fotografie nicht das bessere und vor allem effizientere Medium, vorgefundene Räume und Orte festzuhalten?
Genau hier liegt der Schlüssel zum Verständnis von Schellings Kunst verborgen: Es werden keine realen Orte abgebildet bzw. nachgeahmt, sondern es werden neue Räume geschaffen. Bianca Schelling geht zwar von Orten aus, die es in der Wirklichkeit tatsächlich so gibt, aber sie malt sie nicht einfach ab. Sie konstruiert diese Orte vielmehr nach, sie verdichtet sie zu kompakten Bildern, die im Vergleich mit Fotografien wie Energiebündel wirken. Die Flächen ihrer Bilder beginnen bei näherem Hinsehen zu pulsieren, die nur scheinbar zurückhaltende Farbigkeit explodiert in schillernden Farbkontrasten. Hinzu kommt ein geradezu magischer Tiefensog, der den Betrachter in die Bildtiefe hineinzieht. Statt fotografischer „Flachware“, die ihrerseits mit Körnung oder Pixel zu kämpfen hat, präsentiert uns Bianca Schelling Malerei vom Feinsten indem sie reale Orte in sinnlich komprimierte, fast irreale Räume übersetzt.
Dabei ist der Aspekt des von Menschenhand geschaffenen Kunstwerks zentral. Anders als im Medium der Fotografie, wo der Mensch zwar den Auslöser betätigt, den Rest aber eine Maschine objektiv erledigt, bleibt in den Bildern von Bianca Schelling das malerische Handwerk sichtbar. Der Duktus, also die einzelnen Pinselstriche auf der Bildfläche, erinnern noch an den Schaffensprozess, in dem die Künstlerin die Farbe aufgetragen hat. Man erahnt die Konzentration und Durchhaltekraft, die jedes einzelne Bild bis zur Fertigstellung eingefordert hat. Fast möchte man als Maler niederknien vor der dadurch erreichten malerischen Präzision der Schellingschen Bilder, die dadurch etwas geradezu Festliches erhalten. Es ist ein Privileg, die Arbeiten heute nach ihrer Fertigstellung in ihrer ganzen Perfektion sehen zu dürfen. Mit der Künstlerin teilen wir als Betrachter den Moment der Vollendung; jenen Augenblick also, in dem das Bild nach harter Arbeit fertig gestellt wurde.
Dieser menschliche Aspekt des Machens, der den Betrachter an das Tun der Künstlerin erinnern lässt, erleichtert den Zugang zu Schellings Bildern. Diese werden dadurch nahbarer, nachvollziehbarer, fast sympathisch, indem sie die Grenzen des Menschenmöglichen preisgeben.
So nachvollziehbar Schellings Arbeiten in dieser malerisch-technischen Hinsicht auch sein mögen, so rätselhaft bleiben sie in ihrer Inhaltlichkeit. Zu sagen „Bianca Schelling male halt Architektur“, wäre zu wenig. Die festliche Aufgeladenheit der einzelnen Bilder würde dabei nicht berücksichtigt werden, Schelling hätte in diesem Falle ihre Bilder ebenso gut auch fotografiert haben können.
Wie kann also dieses seltsame Plus an Rätselhaftigkeit bzw. Magie der gemalten Orte in Worte gefasst werden? Wie ist der Kosmos aus menschenleeren, reduzierten und zugleich aufgeladenen Räumen zu erklären? Den Zusammenhang von klarer Bildanlage und geradezu magischer Ausstrahlung der Schellingschen Bildräume lässt sich wohl mit Friedrich Nietzsche am besten erklären. Am Ende des 19. Jahrhunderts entwarf Nietzsche vor dem Hintergrund zunehmender Industrialisierung, Verstädterung und historistischer Prunkbauten seine sog. „Architektur der Erkennenden“, die auf das Wesentliche reduziert sein sollte, damit sich der Mensch selbst darin wiederfinden könne. Nietzsche schreibt: „Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt und wo feinerer Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde: Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. [...] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.“ (KSA 3, S. 524-525)
Wie Schelling setzt auch Nietzsche dem alltäglichen Chaos einen Ort entgegen, der ein ruhiges Zu-Sich-Selbst-Kommen ermöglicht indem man sich der konzentrierten Meditation seines Daseins besinnt. Ein Ort, an dem das eigene Ich nicht durch die Spektakel der Massenmedien erstickt wird, sondern sich – zumindest in Gedanken bzw. bei der Bildbetrachtung – frei im Raum bewegen kann. Bianca Schellings Bilder sind menschenleer, d.h. der Betrachter wird nicht durch Passanten abgelenkt, sondern kann sich ganz auf sich und den privaten Dialog mit dem Bild konzentrieren. Dadurch schaffen Schellings Bilder Freiräume für das eigene Ich.
Dieser Freiraum ist aber nicht zu verwechseln mit Freizeit oder Entspannung! Ganz im Gegenteil: Schellings Bildräume fordern den Betrachter heraus zur konzentrierten Arbeit am eigenen Ich und der Auseinandersetzung mit der Welt. Schellings Bilder bemühen sich in diesem Sinne nicht zu gefallen. Sie sind keine schönen Bildchen, die man sich als Schmuck übers Sofa hängt. Entsprechend definierte Nietzsche den „großen Stil“. „Die Größe eines Künstlers“ so Nietzsche „bemisst sich nicht nach den ‚schönen Gefühlen’, die er erregt [...]. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stil nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergisst zu überreden; daß er befiehlt; daß er will ... Über das Chaos Herr werden, das man ist; sein Chaos zwingen [...] das ist hier die große Ambition.“ (KSA 13, S. 246-247)
Manchmal will man eben verdrängen und sich einfach berieseln lassen, um nicht über die eigene Situation nachdenken zu müssen. In diesen Momenten mögen Schellings Bilder geradezu feindlich wirken. Sie fordern jene Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich ein, die man gerade nicht geben möchte.
In Momenten des innerlichen Gleichgewichts können Bianca Schellings Bildräume andererseits aber auch das Gefühl eines wohligen Daseins in lichtdurchfluteten, stillen Idyllen bescheren und einen Freiraum uneingeschränkter Daseinsfreude eröffnen. Dann wird man als Betrachter des vitalen Pulsierens der Flächen und der Farbexplosionen im Kleinen leichter gewahr und freut sich, an der Lebendigkeit der abgebildeten Architektur, der Windkanäle, der Turbinen oder einer kleinen Sonnenblume im Gegenlicht teilhaben zu dürfen.
Auch wenn Schellings Bildräume nicht wirklich betretbar sind, lassen sie dem Betrachter doch genug Raum sich hinein zu vertiefen und eigene Gefühle und Ängste hinein zu projizieren, sich also mit anderen Worten selbst zu finden.
Thilo Westermann
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